„Demokratie lernen und leben“: Was tun gegen Politik- und Parteienverdrossenheit? Weshalb eine basisdemokratische Partei zum jetztigen Zeitpunkt eine gute Idee für unser demokratisches System ist.
Was im politischen System falsch läuft
Die elektoral-repräsentative Demokratie steht momentan von vielen Seiten aus unter Beschuß, nicht nur von reaktionär-diktatorischer Seite wie in der Türkei oder einigen osteuropäischen Staaten. In Mitteleuropa wird auch von wissenschaftlicher Seite aus die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit dem politischen System identifiziert, die sich schon lange statistisch in massenhafter politischer Passivität und dem Boykott von Wahlen äußert. Gute Kritik findet sich im empfehlenswerten Buch des niederländischen Politikwissenschaftlers David van Reybrouck „Gegen Wahlen – warum Abstimmen nicht demokratisch ist“, oder in diesem Artikel des selben Autors.Weniger kritisiert wird in der Diskussion bisher speziell das Parteiensystem. Politische Parteien in Deutschland sind in sich zwar meistens offiziell demokratisch organisiert, de facto sind aber nicht einmal die Linkspartei oder die Grünen sonderlich demokratische Organisationen. In großen Parteien setzen sich in der Regel ein Paar „Alphatiere“ mit starken Netzwerken durch.
Neue Leute mit frischen Ideen, die etwas grundlegend anders machen wollen, werden als Gefahr für die eigene Macht identifiziert und dann entweder systematisch ignoriert, marginalisiert oder rausgemobbt. Gegen das Führungsnetzwerk von Machtpolitkern in großen deutschen Parteien kommen vereinzelte kritische Geister nicht an, mögen sie noch so gute Ideen haben. Wagt es dann doch einer, gegen den Willen der Parteiführung Anträge einzubringen, dann sind seine oder ihre frohen Tage in der Partei gezählt. In Parteien ohne humanistisches Aushängeschild wie etwa in der AfD oder der CDU (sieht man mal verlogenen C ab), sind solche Vorgänge sicherlich noch stärker ausgeprägt (letztere scheint ohnehin nur noch eine leere Hülle für die One-Woman-Show der Frau Merkel zu sein).Wer in einer deutschen Partei etwas werden möchte, fängt „klein an“. Nicht auffallen, Plakate kleben und immer dabei bleiben. Nach ein Paar Jahren darf man dann Protokolle schreiben oder „Beisitzer“ spielen. Und irgendwann, wenn man Netzwerke geknüpft hat und alle alten Hasen kennt, dann darf man auch mal ran. Man tritt dann etwa bei der parteiinternen Listenwahl für die nächste Bundestagswahl an und hält seine Rede, aber hinter den Kulissen steht schon weitgehend fest, wer gute Listenplätze bekommt. Entsprechend der Netzwerke, dem Machtinstinkt und der Fähigkeit zur Selbstvermarktung.
Um Qualifikation oder gute Ideen geht es kaum.Die Kritik am bestehenden Parteiensystem und dem politischen Spektrum, das es abdeckt, hat in den vergangenen Jahren zur Gründung von zwei großen Parteien geführt, der Piratenpartei (internet-liberal) und der AfD (rechts-reaktionär). Auf der linken Seite des Sektrums tat sich bisher jedoch wenig. Die Frustration und Unzufriedenheit mit den politischen Eliten des Landes und der Europäischen Union vermochte etwa die Linkspartei nie so recht für sich nutzen.
Die Piratenpartei in Deutschland ist gescheitert an einer inhaltlichen Zerfaserung. Die Partei, die ein Spektrum von neoliberal über links-liberal, linksradikal bis libertär abdecken wollte, konnte sich auf keinen gemeinsamen Nenner einigen – nicht einmal im Bereich von Netzpolitik und Fragen der Informationstechnologie. Allerdings haben die Piraten neue Ansätze eingebracht und haben mit ihrer Ablehnung von Elitismus und Korruption im politischen System wichtige Arbeit für die politische Kultur geleistet.
Über die SPD braucht man nicht zu diskutieren. Bei ihr ist ja nicht erst seit Hartz IV und der Unterstützung für neoliberale Handelsabkommen, Privatisierungen usw. bekannt, daß sie sich mit dem Label „links“ zu Unrecht schmückt. Auch haben in der SPD noch immer die Transatlantiker das Sagen, siehe TTIP und CETA (was seit Trump vielleicht nicht mehr so wichtig ist).
Die Linkspartei hat gute Forderungen und Überzeugungen. Aber auch sie ist ein Top-Down-Machtapparat mit ausgesprochenen Machtmenschen wie Gregor Gysi oder Sahra Wagenknecht und anderen „Etablierten“ an der Spitze. Auch hat die Linkspartei viel zu stark nachgelassen, was die Forderung nach grundlegenden Reformen im Wirtschaftssystem betrifft. Sie wirkt, wie die anderen großen Parteien auch, eher phantasie- und antriebslos.
Über die Grünen können Ökos und Bewegungslinke seit einigen Jahren nur noch mit der Nase rümpfen. Ob es nun Herr Kretschmann ist, der die Autoindustrie hofiert und TTIP fordert, ob es das Abnicken von Hartz IV ist oder die Unterschrift für die Genehmigung des Kohlekraftwerks in Hamburg-Harburg durch eine grüne Senatorin. Auch das aktuell gekürte „Spitzenduo“ zweier Realos spricht auch für sich. Diese Partei will den Turbokapitalismus lediglich noch grün anmalen – die neue FDP plus öko, wenn man so will.
Und das war es auch schon im Großen und Ganzen mit „Vollprogrammparteien“ des linken Spektrums. Sicherlich gibt es noch ein Paar ehrenwerte Kleinparteien, aber bisher hat es keine geschafft.Die Basisdemokratische Partei will anders und humanistischer an das Thema Macht herangehen, als Albert Camus in seinem Roman „Der Fall“ resigniert die Wirklichkeit in unseren westlichen Gesellschaften beschreibt:
In Wahrheit träumt jeder intelligente Mensch davon, ein Gangster zu sein und mit roher Gewalt über die Gesellschaft zu herrschen. Da dies nicht so einfach ist, wie die einschlägigen Romane zu glauben vermögen, verlegt man sich im Allgemeinen auf die Politik und läuft in die graumsamste Partei. Aber man kann ja seinen Geist ruhig erniedrigen, wenn einem dafür alle Welt Untertan wird.
Albert Camus aus dem Roman „der Fall“ von 1956
Mögliche Auswege aus der Miesere
Das mag sein, aber wir sollten uns Gedanken machen, wie wir Partizipation wieder stärken, anstatt zu hoffen, daß die Menschen sich wieder beruhigen und danach alles wieder so ist, wie es war: Mit einer einfach verständlichen, vertikal klar geordneten Gesellschaft, in der politische Eliten weitgehend tun und lassen können, was sie wollen und einer Bevölkerung, welche die Eliten gewähren läßt ohne groß zu murren. So ein Zurück wird es nicht geben, denn der Respekt vor Autoritäten – zumindest politischen und ökonomischen Autoritäten – ist stark erodiert.Volksabstimmungen in egal welcher Form, können insbesondere dann zielführend sein, wenn sie dazu führen, daß gesellschaftliche Diskurse ausgetragen werden und politische Eliten gezwungen werden, zu erklären, was sie eigentlich tun, wie Entscheidungen entstehen und begründet werden. Wir brauchen also flankierend neben einer maximal möglichen Bildung für alle, eine politische Diskussionskultur auf allen Ebenen von Bevölkerung und Gesellschaft – jenseits unergiebiger Talkrunden bei den Wills, Maischbergs oder Lanzens mit den immer selben, wenig fähigen Personen…Auch sollte man konsequent aus den Fehlern des Parteiensystems und vergangener Alternativbewegungen lernen und Parteien gestalten, deren Strukturen und Prinzipien so intelligent aufgebaut sind, daß ein derartiger Machtapparat gar nicht erst entstehen kann. Historische Erfahrungen vergangener und aktueller Bewegungen und Organisationen gibt es genügend. Immerhin liegt eine etwa 2.500-jährige Demokratiegeschichte hinter uns und Inspiration gab es seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts genug: Sei es von der Grünen Partei in ihren Anfängen oder den zum Teil gescheiterten Piratenparteien in Europa. Des Weiteren von der Zapatistischen Bewegung in Mexiko oder den studentischen Protestgruppierungen seit den 1968er-Jahren, den „Empörten“ aus Spanien, „Occupy Wallsteet“ oder Diem25.Eine Basisdemokratische Partei, die es besser machen möchte, muß den großen Brückenschlag wagen zu den außerparlementarischen Gruppierungen und dennoch bewusst im bestehenden Parteiensystem mitmischen, um zu zeigen, daß es besser geht und daß stabile und effektive Parteistrukturen trotz basisdemokratischer Mitbestimmung und ohne Personenkult möglich sind.Es gilt, die repräsentative Demokratie endlich demokratisch zu machen. Nur so können diejenigen angesprochen werden, die vom aktuellen politischen System und den großen Parteien enttäuscht sind; sich zugleich jedoch nicht von rechten Bewegungen und Parteien angezogen fühlen.Herr Gauck hat am 18. Januar in seiner Abschiedsrede „Demokratie lernen und leben“ die rhetorische Frage in den Raum gestellt:
„Was können wir unseren Kindern und Enkeln mitgeben, damit dieses friedliebende, freie und soziale Deutschland erhalten und entwickelt werden kann?“ Joachim Gauck, 2017
Der scheidende Herr Präsident hat eine interessante Interpretation der gegenwärtigen Situation im Lande: Freiheit? Vielleicht, wenn man mal von den vielfältigen ökonomischen Zwängen zur Selbstvermarktung und dem Zwang zur Arbeit absieht. Soziales Land? Vielleicht war es das mal zumindest ein Wenig in Ansätzen in den 1970er-Jahren (aber auch nur gegenüber anderen Deutschen, weniger im Sinne internationaler Solidarität).
Das Wort „erhalten“ ignorieren wir mal und konzentrieren und auf das Wort „entwickeln“: Hier bedarf es sicherlich grundlegender politischer Reformen für mehr Partizipation und demokratische Mitbestimmung. In Bezug auf das Parteiensystem kann mit Sicherheit einiges verbessert werden. Ein paar Vorschläge sollen in den folgenden Punkten zusammengefaßt werden:
- Sachthemen vor Personen: Machtpolitiker und Narzißten sollten daran gehindert werden, Parteien zu dominieren
- Konsequente Demokratie: Einführung von innerparteilichen anonymen Wahlen, kombiniert mit einem Losverfahren für Listenplätze oder die Vergabe von Posten. Außerdem: die Einführung des Rotationsprinzips und eines Instrumentes, im Rahmen dessen alle Entscheidungen der Partei per Urabstimmung getroffen werden
- Prinzipien vor Macht: Konsequent auch mal nein sagen zur Machtoption und Bündnispartner in der außerparlamentarischen Opposition suchen
Wichtig wäre es für eine neue, basisdemokratische Partei auf der linken Seite des Spektrums, klare politische-inhaltliche Grundsätze zu definieren, um nicht den Fehler der Piraten zu wiederholen, keinerlei Rahmen für ein homogenes politischen Spektrums zu setzen. Essentiell ist auch eine vollständige Transparenz der Parteien und des politischen Systems ohne Geheimabsprachen und Hinterzimmerpolitik. Zudem muß es rasch zu einer Entflechtung von Parlament und Wirtschaft kommen. Es ist Zeit für eine post-neoliberale Politik und Gesellschaft.
Brennende Themen der aktuellen politischen Situation drohen hintenüberzufallen, wenn nicht bald etwas passiert im Parteiensystem: Mit dem Sterben der Piratenpartei drohen Fragen des Datenschutzes und der Massenüberwachung ins Hintertreffen zu geraten. Zudem gibt es momentan keine große Partei, die sich traut, wirklich radikale Forderungen zu stellen – etwa nach einem vollständigen Umbau des Bildungssystems hin zur Entschleunigung und Reformpädagogik, einer gesetzlichen Deckelung von Mietpreisen oder einer gestaffelten Mehrwertsteuer entsprechend gesellschaftspolitischer Ziele.
Es muß einen Ruck geben, damit die Wirtschaft dauerhaft und verfassungsmäßig den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen untergeordnet wird und bestimmte Gesellschaftsbereiche von ökonomischen Konzepten und ökonomischem Denken befreit werden. Etwa das Bildungssystem, die soziale Infrastruktur, die Wasserversorgung und in Teilen das Gesundheitssystem sowie die Pflege.
BDP
Steffen
BDP
Enrico